Die Figur des Chuck
Die Figur des "Chuck" im Stück hält sich ziemlich originalgetreu
an Jacques D., der Mitte der sechziger Jahre seinen Job als Kundendiensttechniker
für Spielautomaten aufgab, weil er als Gitarrist bei einer Rocknrollband
mehr verdiente. Damals gab es noch viele Tanzcafés und -bars.
Die Band war gut beschäftigt. Es gab keinen Laden zwischen Dachau,
Karlsfeld und München, den sie nicht kannte. Sie spielten natürlich
den normalen Rocknroll und Beat, aber auch die wichtigsten volkstümlichen
Tanznummern (Schneewalzer, Pinke-Pinke usw.). Zum Teil kamen sie bis in
die Erdinger Gegend hinaus. Mitte der siebziger Jahre kam die erste
Diskowelle, und die Bands waren fast alle arbeitslos. Damals begann Chuck
mit seiner Band, jeden Donnerstag im Rubin Club in Karlsfeld einen Rocknrollabend
zu geben. Nach ein paar Jahren Anlaufzeit war der Donnerstagabend
in Karlsfeld der Geheimtip der Münchner In-Szene. Irgendwann kamen
dann auch die Journalisten und schrieben über ein Rocknroll-Revival,
so daß die Band ziemlich berühmt wurde. Einmal spielte sie als
Vorgruppe bei der Deutschlandtournee der Bay City Rollers.
Die Band verdiente satt und übernahm den Rubin Club in Karlsfeld.
Jeder in der Band war Geschäftsführer. Verträge usw. unterzeichnete
allerdings Chuck alleine. Es war der Laden, wo man hinging, bumsvoll
von Montag bis Sonntag, die Umsätze waren gewaltig. Die Frauen
der Musiker luden großzügig ihre Freunde ein, Schampus wurde
das Standardgetränk. Ein Teil des Tresens war reserviert tut
die Zuhälter und Gebrauchtwagenhändler des Münchner Nordens.
Es war nichts Besonderes, daß der Sänger zwischen zwei Musiksets
eine Frau im Stehen an der Wand in der Küche vögelte. Chucks
Bruder Ivo spielte Baß und fuhr ein Achtzylinder Chevrolet Cabrio,
der Begleitgitarrist eine schwarze Corvette Stingray. Der Schlagzeuger
eröffnete ein Management-Büro und stellte ein junges Model als
Sekretärin ein. Die Bedienungen machten gemeinsame Sache mit dem Tresenkellner
und wirtschafteten in die eigene Tasche, nachts nahm das Personal flaschenweise
Sekt mit nach Hause. Als der Rubin Club pleite ging, blieb Chuck
mit 70.000 Mark hängen, weil er fast alles unterschrieben hatte und
verzog sich für ein Jahr nach Mexiko. Seine Frau, eine überdrehte
Sekretärin und GoGo-Tänzerin, hatte damals ein Verhältnis
mit einem polytoxikomanen Amerikaner, der an einem Abend den ganzen Sack
Homegrown wegrauchte, der den Winter hätte reichen sollen, und dann
ins Bad ging und alle Medikamente aus dem Alibert einwarf, darunter eine
Dreimonatspackung Pille. Später ging sie mit ihrem Sohn Davy ein Jahr
nach Asien.
Als sie vor zwei Jahren zurückkam, hatte sie ein weiteres Kind
von einem französischen Freak und gab Davy zu Chuck. Chuck war pleite
und wohnte wieder bei seiner Mutter, die damals knapp 70 war. Nachts nach
vier putzte er die Diskothek seines Bruders Ivo, tagsüber arbeitete
er als Ausfahrer für eine Laborfirma. Die Mutter zog zu Ivo aufs Land
und kümmerte sich um den Haushalt und die zwei Enkel dort.
Chuck zog wieder eine Band auf, die Oldies spielte und jeden Monat
einige Jobs in Diskotheken hatte. Bei einem Gig lernte er Angie kennen,
die dort in einem Wirtshaus bediente. Sie war 1,78 groß, sehr attraktiv
gebaut und trug fast nur handbreite Miniröcke. Drei Monate später
wurde sie schwanger und zog zu Chuck und Davy in die Wohnung.
Vier Monate, nachdem ihr Kind geboren war, rief eine Frau an und sagte,
sie habe ein dreijähriges Kind von Chuck. Chuck habe jetzt ja wieder
Jobs als Musiker und sie wolle Alimente. Für Chuck war das hart, weil
er ja auch noch für einen anderen Sohn zahlen mußte, der mittlerweile
16 war und den er noch nie gesehen hatte. Es lief alles relativ gut, bis
eines Tages Chucks Mutter, Frau D., ohne Vorankündigung in der Tür
stand und in ihre Wohnung zurück wollte. Was war geschehen? Das Haus
von Chucks Bruder Ivo war an diesem Morgen zwangsgeräumt worden, weil
Ivo mit seiner Diskothek seit Monaten in den roten Zahlen war und seit
einem Jahr keine Miete gezahlt hatte. Sechs Wochen bevor das Haus geräumt
wurde, war Ivos damalige Frau mit einem jugoslawischen Tanzmusiker nach
Trier verschwunden und hinterließ ihm den fünfjährigen
Sohn und 150.000 Mark Schulden, für die Ivo unterschrieben hatte.
Zur Figur des Tino
Tino traf ich im November 1989, als wir nach einem Konzert im Schwabinger
"Peron" abstürzten. Dabei waren Chuck und ich. Unser Keyboarder mußte
schon früher heim, weil er kränkelte. Es muß schon in den
frühen Morgenstunden gewesen sein, als Chuck, der links von mir am
Tresen stand, der Bedienung sagte, sie sei die Liebe seines Lebens: "Du
wärst die richtige Frau gewesen für mich." Etwa gleichzeitig
weihte mich Tino in die rauhen, aber auch schönen Seiten seines richtigen
Berufs ein: Den Tresen im "Peron", sagte er mir, mache er nur aushilfsweise.
Sein eigentlicher Beruf sei Motorradtestfahrer bei BMW. Der normale Mensch.
Meinte er, mache sich überhaupt keinen Begriff davon, wie hart der
Job eines Testfahrers sei. Die meisten denken sich, das sei ein dufter
Job, wie Autorennfahrer oder Modefotograf, aber in Wirklichkeit ist das
eisenhartes Business.
Wenn er um 7 in die Werkstatt reinkam, stand der Chef meistens schon
da mit einer Testmaschine, an der rumgebaut worden war, zig Messgeräte
dran, und das Teil derartig beschissen zu fahren und draußen saukalt.
"dann hieß es: 'Tino, wir brauchen heute 2000 Test-km auf den Bock,
bretter rauf nach Hamburg.' Okay, dann bin ich los, bei jedem Wetter. Hoch
über Nürnberg und Würzburg, runter dann über Bremen,
Köln und die Loreley, und wenn ich gut drauf war, hab ich noch eine
Runde durch den Schwarzwald gedreht. Wir sind so scharf gefahren, daß
wir in den Kurven mit dem Pedal dauernd am Boden waren. Da hast du nur
einen Funkenregen gesehen. Wenn wir am Abend in die Werkstatt reinfuhren,
waren die Pedale halb weg, es war die Härte, wir sind praktisch nur
gesäächt."
Seitdem hat er es mit den Nieren, das sei eben der Preis. Deshalb ist
er zur Zeit bei BMW im Ersatzteillager. Als Beweis zeigte er mir eine Visitenkarte.
Wie ich auf Prittwitz kam
Meine erste Platte nahmen wir nördlich von Altötting bei einer
Land-WG auf, die in einem verrotteten Bauernhof hauste. Ein netter bekannter
hatte mich mit dem versprechen dorthin gelockt, die Platte zu produzieren.
Als wir mit den Aufnahmen begannen, stellte sich heraus, daß wir
alles selbst machen mußten. Er ließ sich jeden Tag nur einmal
kurz blicken, in Begleitung einer alleinerziehenden Mutter, die bei Modeschauen
ländlicher Kaufhäuser auftrat. "Plattenproduktion" war sein Alibi
für die morgendlichen Verhöre durch die Ehefrau. Wir bastelten
die Aufnahmen also ohne Produzent, dafür aber in der Gesellschaft
einer Million munterer Fliegen, welche den notdürftig zum Stall umgeheimwerkerten
Stall frequentierten.
Ein paar Jahre später, als sich die Platte bescheiden verkauft
hatte, meldete sich der "Produzent" wieder und wollte Geld. Zuerst dachte
ich noch, daß läßt sich gesprächsweise regeln. Einige
tage darauf traf jedoch ein scharf formulierter Brief ein, aus einer Anwaltssozietät
mit 60% Adelstiteln im Briefkopf.
Ich wollte mich mit den Leuten schon fast anlegen, als mir ein Freund
einen Tip gab, gerade noch rechtzeitig, wie ich heute sagen kann: Er riet
mir von der Auseinandersetzung ab, weil zwei Anwälte dieser Kanzlei
bereits Prozesse wegen Auftragsmord am Hals hatten, allerdings ohne Konsequenzen,
weil den Herren von Soundso nichts zu beweisen war.
Der "Produzent" ist mit 44 verblichen. Nach seinem Tod erfuhr ich,
daß er verschiedene Hobbies hatte: ein bißchen Koksdealerei,
Handel mit defekten Gebrauchtwagen, getürkte Autodiebstähle und
andere Versicherungsschwindeleien, also durchweg nichts Kapitales, möchte
fast sagen, nur Kavaliersdelikte.