SZ Mittwoch, 30. Dezember 1998

 Der jodelnde Nichtschwimmer
 Silvestergaudi an den Kammerspielen: Georg Ringsgwandl und sein Musical „Ludwig II.“

Die ganze Wahrheit über Ludwig II. erfährt man auch in Georg Ringsgwandls neuem Bühnenspektakel nicht, aber eigenwillige Details. „Er war ein ungebildeter, verwöhnter, rotzarroganter, verschwendungssüchtiger Dandy, der sich für was Besseres hielt und für den die Masse des Volkes dumpf und dumm war.“ Sagt Ringsgwandl. Er muß es wissen, hat er doch zahlreiche Briefe von passionierten Ludwig-Forschern erhalten und sich durch Tausende Seiten von Sekundärliteratur gewühlt. Was auch deshalb sehr viel ist, weil der bayerische Rockkabarettist „normalerweise gar nichts liest“ für das, was er macht. Aber trotz seiner Recherchen wolle er gerade kein Historiendrama erzählen, bei dem die sentimentalen Leute zu schluchzen anfangen. „Wer das will, muß nach Füssen fahren.“
Dort, am Rande des Forggensees und mit malerischem Blick auf Schloß Neuschwanstein, wird gerade ein 1400 Plätze bietendes Tourismus-Theater für ein Musical gebaut, das täglich den Mythos vom bayerischen Märchenkönig wiederaufleben lassen will. Die Premiere für dieses einmalige Weihespiel, zu dem Franz Hummel die Musik komponiert (als Ersatz für den derzeit uninspirierten Konstantin Wecker), soll Silvester 1999 stattfinden. Genau ein Jahr früher avanciert der in unzähligen Filmen und Büchern zur Kitsch-Ikone hochstilisierte Alpenmonarch nun an den Münchner Kammerspielen zum Musiktheater- Helden: „Ludwig II.“ als Punkoper (Uraufführung am morgigen Donnerstag um 18  Uhr).
So etwas kann nur jemand ausbrüten, der besonders schrill und schräg drauf ist. Und so von sich überzeugt, daß er, ähnlich wie schon bei seiner letzten Kammerspiel-Produktion „Die Tankstelle der Verdammten“, am liebsten gleich alles selber macht: die Musik („Eine Mischung aus Rock, Polka, Rap, Walzer, HipHop und einigen Wagner- Akkorden“), die Texte („Wenn’s frivol und lustig wird, wird gereimt oder gejodelt“), das Bühnenbild („Ein Königspalast mit Showtreppe, Strip-Bar und wasserblau glitzernder Discotanzfläche“) und die Kostüme (gemeinsam mit Ann Poppel). Zudem führt er Regie und spielt auch noch die königliche Hauptrolle. Nur die Choreographie stammt von Stephen Galloway, der unter anderem das Tanzkonzept für die Rolling Stones - Show entworfen hat. Ist das nicht zuviel für einen allein? „Natürlich ist es Schwachsinn, all das zu machen“, sagt Ringsgwandl, aber er habe einfach das Arbeitsaufkommen „total unterschätzt“.
Hinzu kamen personelle Ausfälle, die ihn an den „Rand des Herzinfarktes“ brachten. Zunächst sprang Thomas Holtzmann ab, weil ihm die Arbeitsweise mißfiel, wenig später wurde dann Christa Berndl krank. Deshalb drohte die Produktion Ende Oktober auseinanderzubrechen. Und weil auch die beiden (hochkarätigen) Ersatzverpflichtungen Jörg Hube und Rufus Beck wochenlang außer Gefecht gesetzt waren (Hube durch ein gerissenes Außenband, Beck durch einen entzündeten Knieschleimbeutel), konnte schließlich erst im November richtig losgelegt werden. Dann aber mit anarchischem Drive: „Ich probiere und verwerfe ja ständig und baue gerne die Ideen der Schauspieler mit ein. Hube und Beck lieben dieses offene System, denn sie können bei mir all die Faxen machen, die sie sich sonst verkneifen müssen.“ Weshalb nun auch eine „verrückte, abgedrehte und durchgeknallte“ Aufführung enstanden sei.
Verrückt muten allein schon die insgesamt 68 Rollen an, die im fliegenden Wechsel von Annika Pages, Georg Ringsgwandl, Jörg Hube, Rufus Beck, Wolfgang Menardi und sieben Falckenbergschülern gespielt und gesungen werden. Neben Ludwig, Sissi, Richard Wagner und Graf Dürckheim treten Bismarck, drei bayerische Ministerpräsidenten, Dr. Gudden, Cosima Wagner, Zofen, Ministranten, Bauern, Trachtler, Gangsterrapper, drei Eigenheimbesitzer, ein Architekt, ein Kardinal, ein Zahnarzt, ein Friseur, ein Attentäter, diverse Ludwig-Doubles sowie Vincent van Gogh auf. Ob der jemals dem bayerischen Sonnenkönig begegnet ist, muß zwar stark bezweifelt werden, auf der Bühne aber dürfen die beiden gaudihalber über ihre konträren Kunstauffassungen fachsimplen, mit dem Ergebnis, daß sich der Maler schließlich ein Ohr abschneidet und zurück in die Psychiatrie geht. Auch die Wasserwacht von Berg am Starnberger See tritt bei diesem satirischen Schnelldurchlauf durch Ludwigs kurzes Leben (1845–1886) in Erscheinung. „Gewandet in zitronengelbe Taucheranzüge, wollen sie Ludwig dazu überreden, einen Schwimmkurs bei ihnen zu machen.“
Womit wir bei der interessanten Frage wären, welches Finale das Stück bereithält. Interessant deshalb, weil es bis heute ganz unterschiedliche Theorien über das geheimnisumwitterte Ableben des Monarchen gibt. Ist er im Geisteswahn ertrunken? Wurde er erdrosselt? Hat ihn der preußische Geheimdienst erschossen? Und war es wirklich die Leiche von Ludwig, die da im trüben Wasser gelegen hat? Es sei ja nicht mal ganz sicher, sagt Ringsgwandl, ob der für Schlösser und Männer gleichermaßen schwärmende Bayernkönig sich tatsächlich in der Gruft der Michaeliskirche befindet. Denn beharrlich weigern sich die Wittelsbacher, der Öffnung des Sarges und also auch der Entnahme von Gewebeproben zuzustimmen.
Ringsgwandl selbst hält es für sehr wahrscheinlich, daß Ludwig – nachdem er im Juni 1886 entmündigt und als Regent abgesetzt worden war – bei einem Fluchtversuch umgekommen ist. „Kann schon sein, daß der hagere Dr.  Gudden den 1,91 Meter großen und 150 Kilo schweren Ludwig angeschossen hat. Und während er verblutet ist, hat er seinen Psychiater ertränkt.“ Welche Todesversion auf der Bühne zu sehen sein wird, verrät er jedoch nicht. Nur daß die sechsköpfige Live-Band (in ihr spielen unter anderem die bewährten Szene- Musiker Nick Woodland und Klaus Reichardt) gebührend laut aufspielt und am Ende noch eine Zugabe geben wird.
Dann erzählt Ringsgwandl noch ein wenig beleidigt von dem Devotionalienhandel, der ursprünglich in der Pause vorgesehen war. „Ich wollte mit der Annika heiße Würstchen und einen Bauchladen voller CDs, Schneekugeln und anderem Merchandising-Kram im Theaterfoyer feilbieten.“ Das habe ihm die Kammerspielleitung aber leider untersagt. „Die Stadt scheint für solche Gags noch nicht reif zu sein.“
Ist München wenigstens reif für diese Punkoper? Für dieses „rotzfreche Kasperletheater“ (Ringsgwandl), das so lange wie ein Fußballspiel dauert, keine romantisch- verklärte Schlittenfahrt zeigt und eine „sehr viel gepflegtere Tonart“ anschlage als noch die Schrott- Operette „Die Tankstelle der Verdammten“ und deshalb zum Beispiel auch – großes Indianerehrenwort – ganz ohne das Wort „ficken“ auskomme.
Wenn nicht: „Vielleicht machen wir mal eine Tourneevorstellung in Füssen.“
SVEN SIEDENBERG