Tagesanzeiger 12.12.98

Der Erfinder des Raunzgesanges

Kardiologe ist er nicht mehr. Aber ein schriller Vogel
ist Georg Ringsgwandl geblieben. Auch als Ludwig II.
 

Autor: Von Kurt-Emil Merki

"Das ist Schwachsinn!" Georg Ringsgwandl schaut mit
funkensprühenden Augen auf Annika Pages. Dann äfft er
ihre Bewegungen nach. "Du machst Disko!" "Disko" tönt
ungefähr wie - "Hundedreck". Die Schauspielerin ist
irritiert, gibt zu bedenken, dass sie eine Frau sei. "Frauen
bewegen sich einfach anders als Männer." Einen
Augenblick riecht es nach Zoff. "Okeh", beendet
Ringsgwandl die Auseinandersetzung, "okeh, mochmer's
nochmals." Die beiden repetieren die Szene noch einmal
und noch einmal. So, wie er sie haben möchte.

Ringsgwandl ist Regisseur. An der Dachauerstrasse in
Schwabing probt er in einer alten Fabrikhalle "Ludwig II.
- Die volle Wahrheit"; eine Punkoper, die am
Silvesterabend in den Münchner Kammerspielen ihre
Uraufführung erleben wird. Ringsgwandl ist auch der
Komponist, Texter und Bühnenbildner. Annika Pages ist
Sissi und Cosima Wagner. Sie gehört - wie Jörg Hube,
der den Bismarck und die Königin Marie gibt - zum festen
Ensemble der Kammerspiele. "Die Pages", wird
Ringsgwandl später sagen und auf ihre britische
Edellimousine zeigen, die vor dem Proberaum parkiert ist,
"die Pages, sie ist eine Diva."

Südostdeutscher Zappa

Ringsgwandl aber ist ein Star. Ein Vogel auf jeden Fall.
Ein zu kurzer Oberkörper ruht auf zu langen Beinen. Aus
dem schmalen Gesicht wächst eine spitze Nase. Ein
Marabu. Wenn er etwas erklärt, wirft er ruckartig den
rechten Unterarm aus dem Gelenk. Immer wieder streicht
er Haare aus der Stirn, Haare, die es gar nicht gibt. Er
kneift häufig mit den Augen und spricht rasend schnell und
so sehr in einem tirolerisch eingefärbten Bayrisch, dass ein
Gespräch mit ihm einem Gespräch in einer Fremdsprache
gleichkommt. Georg Ringsgwandl hat sich einen Ruf in
erster Linie als Rockmusiker erworben, als die
südostdeutsche Variante eines mit Jango Edwards
verschmolzenen Frank Zappa.

Wehklagend, nicht wehleidig

Dabei ist Ringsgwandl Arzt. Doktor der Medizin.
Kardiologe. Tagsüber arbeitete er jahrelang als Oberarzt
im Krankenhaus von Garmisch-Partenkirchen, seriös und
engagiert. Abends war er mit seiner Band unterwegs, wild
und sarkastisch. Verwirrlich jedenfalls und irgendwie sehr
speziell. Die Haare standen ihm (und bald einmal auch
dem Publikum) zu Berg, Leopardenmuster empfand er als
besonders kleidsam und ohne Hut erschien er nur selten
auf der Bühne. Ringsgwandl erfand den Raunzgesang.
Raunzend besang er das Elend der Zivilisation,
wehklagend - aber nie wehleidig. Und immer wieder war
er selber das Ziel der eigenen Ironie: "Hört mir überhaupt
jemand zu, gibt mir wer Bescheid? Begeisterung oder nur
Barmherzigkeit?"

Glück bei den Frauen

Arzt wurde Ringsgwandl, weil er einen Beruf suchte, in
welchem er nicht nur ein Talent entfalten konnte. War er
doch einer, der die Menschen gern hatte, über
handwerkliches Geschick verfügte und dessen Intellekt
ebenfalls gefordert sein wollte. "Und dann wusste ich
natürlich, dass Frauen auf Mediziner stehen. Gerade die
Chirurgen sind ja was Geachtetes."

Im Studium fühlte er sich bald einmal "auf dem falschen
Dampfer". "Das Studieren hat mir nie wirklich Spass
gemacht." Wohl aber die richtige Arbeit im Klinikum. "Ich
wollte möglichst viel und möglichst rasch lernen. Wie ein
Besessener." Die Chirurgie, die ihm "handwerklich lag"
und erst noch libidinöse Erfüllung versprach, gab er auf,
weil er vom stundenlangen Stehen am Operationstisch
Rückenbeschwerden und Krampfadern bekam. Er
wandte sich der inneren Medizin zu.

Eine erste Tochter kam zur Welt, ausserehelich. Sie lebt
heute am Untersee, gegenüber von Steckborn. 18 Jahre
alt ist sie, und "ein guter Mensch". Es gibt zwei weitere
Töchter, eheliche, und mittlerweile auch schon 13- und
15jährig. Sie leben mit ihm und seiner Frau als richtige
Familie in Murnau bei München. Die Ältere ist eine wie
der Vater: "Wenn sie Widerstand spürt, dann",
Ringsgwandl macht die Faust, "hält sie dagegen." Die
13jährige aber leidet am Vater, der keinen richtigen Beruf
mehr hat. Warum er, will sie von ihrem Erzeuger immer
wieder wissen, nicht Oberarzt geblieben oder Chefarzt
geworden sei? "Dabei", sagt Ringsgwandl, "verdien' ich
heute als freischaffender Künstler mehr als vorher." Aber
was nützt das einem Mädchen, das von seinen
Mitschülerinnen ständig des Vaters wegen gehänselt wird?
Jetzt überlegt sich das Kind, ob es den Mädchennamen
der Mutter annehmen soll. "Kein Problem für mich",
behauptet Ringsgwandl. Es tönt nur ein ganz kleines
bisschen nach Enttäuschung.

Idylle und Katastrophe

Sein vielleicht schönstes Programm stellte Ringsgwandl
Mitte der 90er Jahre auf die Bühnen des deutschen
Sprachraumes. "Staffabruck" hiess es, es war ein
Soloprojekt und zugleich eine Ode ans Viertel, in dem er
herangewachsen war. Ein Programm, das die Idylle mit
der Katastrophe zu versöhnen suchte. Gewidmet den
Menschen, die einander so lange eine Hilfe waren, als es
ihnen dreckig ging. Und die einander, zu spärlichem
Wohlstand gekommen, das Zahnweh nicht mehr gönnen
mochten.

Staffabruck gehört zu Bad Reichenhall, liegt also am
Fusse des Obersalzbergs, wohin sich der Führer tausend
Jahre lang zurückziehen wollte. Das Haus, in dem
Ringsgwandl gross geworden ist, wurde aus Steinen einer
dem Erdboden gleichgemachten SS-Kaserne gefertigt.
Vater Ringsgwandl war mit 15 Granatsplittern im Kopf
aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekommen. Und mit
einer grossen Wut gegenüber seinen militärischen
Vorgesetzten. Während des Völkermordens vom
Stabsfeldweibel zum gemeinen Schützen degradiert,
suchte

der Vater auf den Strassen von Bad Reichenhall die
wortreiche und halsstarke Konfrontation

mit den ehemaligen Hitler-Offizieren.

Als Kind lernte Ringsgwandl die Zither spielen, als
Jugendlicher die Posaune und als junger Erwachsener die
Gitarre. Das Blasinstrument musste er bald zur Seite
legen, denn der junge Ringsgwandl erkrankte an
Tuberkulose. Nach dem Abitur schrieb er sich an der
stockkatholischen Universität von Würzburg ein. In
München und Berlin, Berkley und Paris entdeckten die
Studenten ihre Freude an Marx und Marcuse, an
Revolution und Demonstration. Damit konnte
Ringsgwandl wenig anfangen. Schon auf dem Gymnasium
in Bad Reichenhall hatte er bemerkt, dass es
"ausgerechnet die Zahnarztsöhne" waren, die ihm, dem
Proletensprössling, beibringen wollten, was eine zünftige
Rebellion ist. Diesen falschen Tönen begegnete er auch in
Würzburg ("auch dort fand die Revolution statt"), und er
begegnet ihnen noch heute. Er erlag ihnen damals
sowenig, wie er ihnen heute erliegt.

Die volle Wahrheit

An "Ludwig II. - Die volle Wahrheit" hat Georg
Ringsgwandl vier Jahre gearbeitet. Nicht ununterbrochen,
aber immer mal wieder. Entstanden ist eine bunte Collage.
Ein Textpuzzle also, ein Musikzusammensetzspiel. Historie
wird mit reinem Nonsense vermengt, es erscheinen
Figuren, die im Stück nachweislich nichts verloren haben.
Nie weiss das Publikum, ob ein Spruch verbürgt oder
erfunden ist. Denn: "Die überlieferten Zitate sind häufig die
wahnsinnigsten."

Ein Stück, das von Ludwig II. handelt, dem sagenhaften
bayrischen Märchenkönig, handelt zwangsläufig vom
Wahnsinn. Irre auch, was die zwölf Schauspielerinnen und
Schauspieler - darunter Ringsgwandl als Ludwig - leisten
müssen. Sie interpretieren zusammen 68 Rollen, was einen
fliegenden Tenüwechsel notwendig macht. Ursprünglich
hätten sämtliche Rollen von Mitgliedern des Ensembles
der Kammerspiele gespielt werden sollen. Als sich - mit
Ausnahme von Hube und Pages - alle nach und nach
dispensieren liessen, weil ihnen die prozesshafte
Regiearbeit von Georg Ringsgwandl zu chaotisch war,
hielt der Regisseur nach begabten Schauspielschülern
Ausschau.

Immer neue Ideen

Die jungen Akteure werden bis an den Rand ihrer
Möglichkeiten gefordert: Sie müssen tanzen, singen und
sprechen. Sie müssen sich schier ohne Unterbruch
verwandeln, sich immer wieder auf neue, auf noch
spleenigere Ideen von Ringsgwandl einstellen.

"Okeh, wuimers moche? Nochmals von vorn." Die
Schauspielerinnen huschen an ihre Plätze, die Schauspieler
stellen sich in Positur. Erneut nimmt eine anstrengende
Probesession ihren Anfang.