NZZ 04.03.94

Ohrfeigen, nachempfunden

Der satirische Sozialdarwinist Ringsgwandl in Miller's Studio

r. r. Mitleid hat im Gefühlshaushalt des Georg Ringsgwandl keinen Platz. Mitleid ist ein triefender Schwamm, der in Waldorfschulen gezüchtet wird, worauf Sozialarbeiter damit ihre Opfer ersticken. Mitleid verstellt bloss den klaren Blick auf krasse Zustände und verhindert naturgemässe Reaktionen wie Ekel, Geringschätzung oder Hass. Mitleid kennt ein Ringsgwandl mit nichts und niemandem, am wenigsten mit sich selber. Drum hat der Mann nach seiner letzten Tournee die schützende Narrenkappe des Musikclowns weggeworfen, die garnierende Begleitband zum Teufel gejagt, um einen mitleidlosen Blick in die eigene Vergangenheit zu tun. Und die Vergangenheit hat einen Namen: «Staffabruck» . So heisst Ringsgwandls neues Album, und so lautet das Motto der Konzertreise, die den bayrischen Barden dieser Tage nach Zürich geführt hat. Staffabruck, auf gut deutsch Staufenbrücke, ist ein Siedlungs-Vorgeplänkel des bayrischen Kurortes Bad Reichenhall, der seinerseits im grenznahen Einzugsgebiet Salzburgs liegt. Staffabruck, das bedeutet: eine Kindheit am Rande, ein notfallmässig gerodeter Flecken Erde, auf dem nach dem Krieg mittellose Reichenhaller Familien ihre Behausungen aufstellen durften, deren Schäbigkeit ihnen umgehend das Prädikat «Kleinhäusler» eintrug. In Staffabruck lernte Klein Georg die Vielfalt väterlicher Pädagogik kennen - die einen schlagen mit der Hand, andere mit dem Gürtel -, und er stellte fest, dass Brüderlichkeit nichts ausrichten kann gegen die Ungleichheit, die zur Unfreiheit führt. Das Leben lehrte ihn demnach den Sozialdarwinismus, dessen konsequente Auslegung eben Mitleidlosigkeit im allgemeinen und den Sozialarbeiterhass im speziellen befiehlt.

Der Schritt zum Vollprofessional

Bis vor kurzem hat Georg Ringsgwandl ein dubioses Doppelleben geführt. Am Tag schuftete er mitleidlos nach dem Motto Taten statt Trost als Oberarzt im Krankenhaus Garmisch, des Abends sang und ätzte er als Musiksatiriker die Menschheit in Grund und Boden. Tagsüber weisser Kittel mit Namensschild, nachts zum Beispiel Hasenpantoffeln, ein übergestülpter Müllsack und Taucherbrille. Dann, letzten Frühling, hatte er genug vom bürokratisierten Stumpfsinn der höheren Medizin und setzte voll auf die Bühne. Wie reif der Entschluss war, belegt «Staffabruck». Ringsgwandl vollzieht den Schritt zum Vollprofessional nicht mit medienwirksamem Tamtam, sondern er kostet die neue Freiheit aus, indem er sich beruflich dem Privaten zuwendet. Mitleidlos und zugleich vorsätzlich verletzlich setzt er in diesem Programm seine Wurzeln der allgemeinen Begutachtung aus. In seinen Staffabrucker Liedern spürt Ringsgwandl den Wunden und Wundern seiner Kindheit nach, bis nachempfindbar ein Bild jenes Menschen entsteht, der er ist.

Blues, bajuwarisch

Ringsgwandl hat den «Staffabruck»-Zyklus grösstenteils in den siebziger Jahren geschrieben. Merken würde man's nie, denn die Lieder sind unvergängliche Zeugnisse der Nachkriegszeit in einer musikalischen Form, die seit ihrer Geburt kein bisschen gealtert hat: Blues, für einmal eben bajuwarisch. Zusammen mit seinem wunderbaren Begleitgitarristen Nick Woodland lässt Ringsgwandl eine Stunde lang die Biotope und das Bestiarium seines Staffabruck aufleben. Nach der Pause wechselt er von den anheimelnden Archetypen der Kindheit zu den schrägen Vögeln von heute mit sprühenden Kostproben aus früheren Programmen und Platten. - Eine Mischung daraus, eine Ansammlung archetypischer Querköpfe der Gegenwart, wird Georg Ringsgwandl nächsten Herbst präsentieren, wenn im Kölner Schauspielhaus unter der Regie des Intendanten Günter Krämer sein Musical «Die Tankstelle der Verdammten» uraufgeführt wird. (Weitere Schweizer «Staffabruck»-Vorstellungen am Freitag in der Mühle Rubigen sowie am Sonntag in der Grabenhalle St. Gallen)