NZZ 09.01.95

Nicht lausig genug

Georg Ringsgwandls «Tankstelle der Verdammten» in Köln

An Zivilcourage hat es ihm nie gefehlt. Jahrelang vertauschte Georg Ringsgwandl des Abends den Arztkittel mit der Narrenkappe, um in Deutschlands Wildem Süden alle erreichbaren Kulturkneipen und Pfarreisäle als Tummel- und Tumultplätze seiner unvergleichlichen Querbeet- Performances zu missbrauchen. Vor etwa zwei Jahren dann hatte das Tingeln ein Ende, Ringsgwandl schaffte den Sprung in die erste Bundesliga der Entertainer, worauf er das Stethoskop vollends an den Nägel hängte, um fortan sein nächtliches Unwesen berufsmässig zu treiben. Mit der Professionalität aber wuchsen naturgemäss auch die Ambitionen des bayrischen Skurrilikers. Neulich gastierte er im Klagenfurter Literatur- Purgatorium (wo er mit seiner Lesung indessen an die Falschen geriet), und nun wagt er sich gar mit einem Pop-Musical in den Staatstheater- Moloch: Das Kölner Schauspiel zeigt unter der Regie des Intendanten Günter Krämer Ringsgwandls Singspiel «Die Tankstelle der Verdammten», vom Autor im Untertitel in präjudizierender Selbstverstümmelung als «eine lausige Operette» taxiert. – Fazit nach zwei Stunden zahmer und lahmer Unterhaltung: für Ringsgwandl-Verhältnisse lange nicht lausig genug. Ringsgwandls «Tankstelle» repräsentiert auf der sozialen Talfahrt sinngemäss die letzte Haltestelle vor der Parkbank. Seine «Verdammten» sind noch keine Clochards, haben noch ein Heim, wahren noch den Schein: Fast-Maturanden, Beinahe-Popstars, Nahezu-Geschäftstüchtige, bei denen im Lauf der Zeit so ziemlich alles bachab gegangen ist, nur der alte Traum von der Chance des Lebens wird Tag für Tag wieder an den Haaren herbeigezogen und den Leidgenossen im Dunstkreis der Zapfsäulen vorgespielt. Dieses Biotop hat zwar einen ziemlich nostalgischen Touch; Ringsgwandls Untergeher verströmen den Hauch der saumseligen Siebziger, seine Diesel- Oase dampft vor rührigem Car-Wash-Charme und weiss noch nichts von der stahlkalten Einheitsgrosstankstelle unseres Fin de siècle. Aber als bühnenwirksame Spielanlage wäre sie theoretisch durchaus zu gebrauchen. – Die Praxis dagegen ist trist. Die Inszenierung in einer pittoresk verödenden Kölner Industriehalle basiert auf dem fatalen Irrtum, dass sich das individualistische Prinzip der Ringsgwandlschen Lieder, Popsongs und Bänkelgesänge nahtlos auf ein ganzes Ensemble übertragen liesse. Da bekommen wir ein vor Doppelbödigkeit und Wortwitz strotzendes Ständchen nach dem andern vorgetragen, aber die rhetorische Brillanz verpufft im Schnürboden, weil kein roter Faden die Gedankenträger und die Gedankengänge verbindet. Aus Angst, er könnte auf die ausgefahrene Musical-Schiene geraten, hat Ringsgwandl so ziemlich alle dramaturgischen Spielregeln ignoriert. Seine Figuren haben kaum Geschichte und spielen auch in fast keiner. Er lässt gerade genügend Story zu, um das Auftreten und Zusammentreffen der dramatis personae zu motivieren. Der Rest ist Musik und schauspielerischer Freiraum. Damit überfordert der Autor das Ensemble kolossal. Engagiert, aber orientierungslos hangelt man sich durch Ringsgwandls wollüstig zwischen Rock und Dixie oszillierende Partitur. Bezeichnenderweise wird dabei der theoretische «Held» des Theaterabends, ein ewiges Gitarrentalent namens Chuck (dargestellt vom erfahrenen Kölner Pop-Frontman Gerd Köster), in den Schatten gestellt von der einzigen Figur, welche Ringsgwandlsches Format aufweist: Ralph Morgenstern geistert in einer Doppelrolle als bodenständige Hausfrau und umtriebige Zauberfee kreuz und schräg durch die Bühnenlandschaft. Aber gerade durch dieses virtuose Epigonentum wird die leibhaftige Abwesenheit des Autors noch schmerzlicher spürbar, und das kann wohl nicht im Sinne des Erfinders gewesen sein. So bleibt die Frage, wie ein routinierter Regisseur einen Neo-Dramatiker derart allein lassen kann. Denn weder hat Krämer versucht, diesem Bühnenfragment ein Minimum an dramaturgischer Form zu geben, noch hat er ausreichend Phantasie, um diese «lausige Operette» in lustvoller theatralischer Anarchie von ihrem Schöpfer zu emanzipieren. Mit dieser Uraufführung ist weder dem Autor noch dem Publikum gedient.

Richard Reich