FAZ 26.05.97

Der Rocker aus der Feenwelt König Bier: Georg Ringsgwandls "Tankstelle der Verdammten" in München

König Lear wußte, wann er aufhören mußte, weil er glaubte, solange er noch mit Fünfzig sein Reich in einem Schwung zerschnipseln und die Schnipsel an seine Töchter verteilen könne, sei es am schönsten abzutreten. Aber wer zu früh aufgibt, den bestraft das Leben. König Chuck dagegen gibt nie auf. Denn er kennt sieben Arten, eine Bierflasche zu öffnen: mit dem Schraubenzieher, mit dem Metermaß, mit dem Handkantenschlag, Korken gegen Korken, mit der Kneifzange, mit dem Feuerzeug und dann noch die Art, den Flaschenhals abzuschlagen. Chuck ist König Bier. Trotzdem muß er am Herzinfarkt sterben, bevor ihn die Auftragskiller hinterm großen alten bayerischen Schrottomnibus mit ihren Pumpguns umlegen können, aber ihrerseits von der amerikanischen Luftwaffenhelferin mit dem schrägen Käppi, im Hauptberuf Souffleuse der Münchner Kammerspiele, umgenietet werden. Wer zu lange bleibt, den bestraft der Tod. Auch Chuck ist ungefähr fünfzig, trägt vorne wahnsinnig angepappte, hinten wahnsinnig lange Haare, knallrote Jeans, weiße Schlangenlederstiefel, eine Lederfransenjacke, knickt in den Knien ein, spreizt die Arme zum Himmel, zieht an einer Zigarette, wirft mit einer koketten Bewegung die Haarmähne aus dem Lederjackennacken, spielt Rodeo mit dem Mikrofonkabel und singt von seiner Gitarre, die er einst spielte in der "geilsten Band im Kreis". Der alte König Lear träumte von alter Liebe und fiel unter junge Böse. Der alte Rocker Chuck träumt von altem Ruhm und fällt unter die sozialen Hängemattenräuber. Beide werden von der neuen Zeit gefressen, Untergeher im gesellschaftlichen Umbruch. Beide sind Phantasten. Beide sterben groß. König Lear ist der Held eines Königsdramas, König Chuck ist der Held eines "Schrottmusicals". Der Unterschied ist minimal. Altherrscher Lear war der Abgott seiner Töchter, bevor sie ihn verrieten. Altgitarrist Chuck war der Abgott aller Rock-'n'-oll-Bands zwischen Kufstein und Koblenz, bevor sie ihn in "Die Tankstelle der Verdammten" entließen. Lear hatte einen Narren, der ihm die Wahrheit sagte. Chuck hat eine Fee, die ihm eine Mark gibt für die Untergrundbahn. Lear tappte, seufzte und schrie und wurde von ein paar Ausgestoßenen begleitet. Chuck rockt, swingt, jazzt und wird von einer hinreißenden Sechsmannband im Omnibus begleitet. Bei Lear gifteten sich die Töchter in großen Dialogen an. Bei Chuck unterhalten sich eine Ei- und eine Samenzelle im süßen Kindermacher-Boogie-Woogie über alle Lebenschromosomkatastrophen ("Nein, du bist ein loser Flegel, / Willst mir nur an die Molekel, / Willst doch nur mit der Flagelle / Ran an meine weiche Stelle"). Über Lear kann man lächeln. Über Chuck kann man brüllen vor Lachen. Chuck wird in den Münchner Kammerspielen gespielt von Georg Ringsgwandl, der ungefähr gleich alt ist wie die Hauptfigur in seinem von ihm so untertitelten "Schrottmusical", das er in München auch selbst inszeniert hat, nachdem es zu Silvester 1994 in Köln noch als "lausige Operette" uraufgeführt wurde. Die Karriere von der Laus zum Schrott ist dem Ding bekommen. Es ist jetzt ganz roh, ganz gemein, ganz sentimental. Ein Schmarrn, aber ein Königsschmarrn. Verzapft wird in der "Tankstelle der Verdammten" der Sprit der Saison: Larifari-Super. Das soziale Elend läuft jaulend rund. Labsal für den stotternden Theatermotor. Georg Ringsgwandl ist Jahrgang 1948, war bis 1993 Oberarzt für Herzschmerz in Garmisch-Partenkirchen. Danach hat er nur noch gesungen. Vorher aber nahm er schon mit Badekappe und Taucherbrille zum Beispiel Sportler, Häuslebauer, Federviehgefährder, Unordnungshüter und Tortenfresser auf die große Rock-'n'-Roll-, Blues- und Folk-Schippe. Ein Anarchomoralist, der sich mit seiner wunderbar schrillen Musik aus dem Untergrund heraus von oben herab in den Rissen der Oberfläche gemütlich breitmacht. Seine Programme hießen "Trula! Trula!" und "Hühnerarsch, sei wachsam!" und "Vogelwild oder Das Zeitalter der Toagbatzen". Man dachte immer, er sei fürs Theater verloren. Jetzt erobert er es, indem er es links liegenläßt. Das geht bei den Münchner Kammerspielen sehr schwer. Denn der Mechaniker Tino, Currywurstbrater und Bierdosenöffner in der "Tankstelle der Verdammten", ehemals Testfahrer bei BMW, Kurvensau a. D., ist bei Michael Tregor ein Alberich mit Schweißerbrille, eine Kunstfigur mit knarzenden Kasperlegelenken, dünn und spillerig, so wie sich Tregor um jede Rolle herumschlängelt wie ein virtuoser Slalomfahrer. Tregor, kurzfristig eingesprungen, macht das relativ glänzend. Er singt von Bremswegen, kaputten Nieren und Tanktypen, mimt den Tagesherbergsvater für den arbeitslos herumhängenden Chuck, aber er ist als Verdammter doch verdammt unverdammt. Annika Pages als Angie, Verlobte von Chuck, der die zwangsgeräumte Chuck-Mutter und etliche uneheliche Bälger im Nacken sitzen, ist als Flitscherl im kurzen Rock und breiten Gürtel, auch wenn sie von ruchlosen Wünschen singt, doch mindestens so glatt wie ihre Lackstiefel. Stephan Kampwirth als Inkasso-Hai, Tankstellendiktator, Tino-Quäler, Auftragsmorderteiler und Angie-Flirter ist fingerstechend alert und lederglatt als Bösewicht, so goldig wie seine Rolexuhr. Das ist alles Schrott, der glänzt, aber nicht lebt. Wenn Ringsgwandl selbst auftritt, schwer und ungeniert dilettantisch und doch so schwerelos gelenkig in seiner bierköniglichen Verratztheit, im Rausch ("Mir is so dullijäh"), in der Sehnsucht der "Ratte nach der sozialen Hängematte", dann bebt der Schrott. Und wenn das letzte Angebot der letzten großen Rock-'n'-Roll-Band nicht bis zu ihm durchkommt, dann heult er um sein versautes Gitarristenleben, als habe er ein ganzes Königreich verloren. Wenn aber die Fee schwebt, wenn Jörg Hube auftritt in silbrigen Strumpfhosen mit Spinnenaufdruck, in C-&-A-Wollrock, Aldibluse (inklusive Preisschild) und Wickelturban, wenn er gigantische Rezitative singt, in die Rolle der Mutter von Chuck schlüpft, nach Blümchentapeten und Hummelfiguren sich sehnt, sich vom Baß bis zum Diskant über sadomasochistische Männer erregt ("Mit der Rute, Ute?"), hinterm Omnibusdach oder vom Bühnenhimmel herab fluoresziert, dann hat König Chuck da drunten sein vogelwildes Pendant da droben gefunden: die Königin der erschüttertsten Nachtzwerchfellseiten allen Lebens und Theaters. Die anderen sind Zulieferer. Hube und Ringsgwandl räumen ab. Und tanken auf. Das Schauerdrama. Die Feenfarce. Das Königsmärchen. Den Riesenschrott. Ein Vergnügen. GERHARD STADELMAIER

Bild Sprit fassen an der "Tankstelle der Verdammten": Jörg Hube als Fee und Georg Ringsgwandl, der Rockerkönig Chuck Foto Rabanus