Das ist ja grade noch mal gut gegangen! Keine
Ausschreitungen, keine Randale, nicht mal eine
Zensur. „Die volle Wahrheit“ über König Ludwig
II. konnte an den Münchner Kammerspielen – und
damit erstmals in Bayern – ungehindert verbreitet
werden, ohne größere Zwischenfälle durch
radikale Monarchisten oder sonstige Anhänger
bayerisch-royalistischer Umsturzbewegungen.
Auszugehen war davon keineswegs. Eine halbe
Stunde vor Beginn der Vorstellung sah die Sache
noch düster aus: Drei vermummte Gestalten mit
schwarzen Ku-Klux-Klan-Kapuzen standen
gefährlich anonym vor dem Theater herum und
demonstrierten gegen die „unerträgliche
Geschichts(ver)fälschung“, die sie drinnen, auf der
Bühne, befürchteten. Guglmänner nannten sie sich.
Eine Geheimorganisation. Sie treten nach eigenen
Angaben nur alle sieben Jahre in Erscheinung und
glauben fest daran, daß Ludwig II. ermordet
wurde. Das Stück über ihren König, das Georg
Ringsgwandl als „Punkoper“ und „billigsten
Disco-Jahrmarkt“ angekündigt hatte, sei
womöglich Blasphemie, bedeuteten die
Guglmänner auf ihrem Plakat.
Auch Flugblätter wurden verteilt. Darauf drohten
die Gugls, daß sie es nicht zulassen würden, „daß
unser König, diese einzigartige Ikone bayerischer
Kultur, in die Niederungen von seichtem
Operettenkitsch hinabgezerrt wird.“ Ihr Aufruf ans
Publikum: „Helfen sie mit, das Andenken und
Vermächtnis unseres Königs nicht durch
geistlos-dümmliche Darstellung besudeln zu
lassen!“
Zwei Stunden später: Jubel in den Kammerspielen.
Von den Kapuzenmännern keine Spur. Sollte das
Andenken an den bayerischen Märchenkönig
tatsächlich in irgendeiner Weise besudelt worden
sein, hat es wohl keiner gemerkt. Oder aber man
hat seinen Spaß gehabt an der königlichen Sudelei.
„Ludwig II. – Die volle Wahrheit“ zeigt vielleicht
nicht die ganze Wahrheit über Ludwig Zwo, ist
jedoch wahrlich voll von Details, wie sie bisher so
scharf und schonungslos nicht an die Öffentlichkeit
gebracht wurden. Wobei das Wörtchen scharf hier
durchaus in seiner ganzen Bedeutungsbreite zu
verstehen ist.
Schrott für Bayern
Schon einmal hat Georg Ringsgwandl in seiner
schwer einzugrenzenden Rolle als Songpoet,
Rock-Kabarettist, Musicalautor, Schauspieler,
Regisseur und Stimmungsmacher in Personalunion
die Münchner Kammerspiele aufgemischt und
buchstäblich zum Scheppern gebracht: mit der
„Tankstelle der Verdammten“, einem
musikalischen Bühnenwerk über ein paar
abgehalfterte Vorstadtrocker, das seiner
Bezeichnung als „Schrottmusical“ alle Ehre machte.
Der Anschluß an die Trash-Szene, den die
Kammerspiele damals mit einem fast rührenden
Willen zum Dilettantismus probierten, ist nunmehr
endgültig vollzogen: „Ludwig II.“ ist zwar ein
ebensolcher Schmarrn, jedoch weit weniger
löchrig und damit insgesamt viel konsistenter als
die „Tankstelle“ – ein bayerischer Königsschmarrn
mithin, der keinen Hehl daraus macht, daß für sein
Zustandekommen auch etwas gekonnt sein will.
Denn natürlich gilt für guten Trash: Wer sein
Niveau unterschreiten will, muß zeigen, daß er eins
hat.
Auch diesmal wieder hat der Allrounder
Ringsgwandl fast alles selbst gemacht: den Text,
die Musik und die Regie, das Bühnenbild sogar,
und auch die Hauptrolle des dekadenten,
verzogenen, kindisch eigenwilligen Bayernkönigs
schrieb er sich gleich selbst auf den Leib. Daß die
Sache trotzdem nicht in die Hose ging, ist vielleicht
das Wundersamste daran. Immerhin: Für die
Choreographie hat sich Ringsgwandl einen
Experten geholt – Stephen Galloway aus der
Kompanie von William Forsythe. Der hat ihm
richtig spritzige Tanzeinlagen hineininszeniert – mit
sieben Schülern von der
Otto-Falckenberg-Schule, die voller Spiellust und
strahlendem Furor sind und dem ganzen einen
Musical-Touch geben, der ziemlich professionell
ausschaut. Die Sieben ersetzen locker ein
50-Mann-Ensemble; verwandeln sich im
fliegenden Wechsel von Ludwigs Dienern in
bayerische Trachtler, Kleinhäusler oder
Holzhacker-Buam; kommen einmal auch als
Wasserwacht vom Starnberger See daher, um
Ludwig als Mitglied zu werben: „Es könnt ja mal
was passieren, wo’s gut ist, wenn man schwimmen
kann.“
Auf Ringsgwandls Varieté-Bühne geht’s zu wie im
Irrenhaus. Nicht nur, daß alle Nase lang eine
Abordnung von Bürgern, Bauern und
Bettelmännern hereinschneit – auch ein gewisser
Richard Wagner taucht hier immer wieder zum
Schnorren auf und wabert waghalsig
wagnerianisch, was Rufus Beck mit Verve kann.
Ludwigs fesche Cousine Sisi wiederum hat sich
gänzlich als Dauergast in München eingerichtet und
baut ihre Turnstunden zu fetzigen Tanznummern
aus. Annika Pages spielt sie als ordinäre Wiener
Schlampe in heißen Dessous. Auch der Maler
Vincent van Gogh (Rufus Beck) kommt vorbei –
ein farbenblinder Patient aus der Psychiatrie.
Des weiteren treten auf: mehrere honorige
Ministerpräsidenten, der
Neuschwanstein-Architekt Alexander mit
Gummimodell sowie – preußisch-zackig, wie aus
dem Bilderbuch – Reichskanzler Otto von
Bismarck, allesamt mit der nötigen Würde (und
Würze) dargestellt von dem wunderbaren Jörg
Hube. Ihm, diesem zarten Schauspieler von eher
grober Gestalt, gebührt die eigentliche Krone
dieser Aufführung. Vor allem seine Frauengestalten
– Hube spielt auch Ludwigs Mutter und dessen
Haushälterin – sind von einer so liebevollen
Komik, daß er fast was Anrührendes hineinbringt
ins ansonsten durchgeknallte Spiel.
Die Bühne ist ein Edel-Puff. Ein Lametta-Vorhang
verdeckt im Hintergrund die Band mit den sechs
Live-Musikern, die Hip-Hop, Funk und Punk
ebenso drauf haben wie zarte Balladenklänge und
zünftige Sachen. Eine Showtreppe aus grünem
Plastik läßt große Auftritte und – dank
angeschlossener Rutschbahn – hechelnde
Rutschpartien zu.
Bayern ist eine Rutschbahn. Und ein Irrenhaus war
es immer schon.
CHRISTINE DÖSSEL