DIE ZEIT Nr. 23  30.05.1997  FEUILLETON

Endlich Schrott!
Endlich keine Kunst mehr!

Premiere an den Münchner Kammerspielen:
"Die Tankstelle der Verdammten" von und mit
Georg Ringsgwandl

Henrichs, Benjamin

Das Leben ist eine Tankstelle. Und weil das Leben, wie jeder weiß, die Hölle ist, heißt diese Tankstelle die "Tankstelle der Verdammten". Hier treffen sich alle, die ihr Glück zu Schrott gefahren haben. Die vom Leben Besiegten - die aber immer noch sinnlos und kindisch daran glauben, eines Tages doch zu den Siegern, den Superstars des Planeten zu gehören.
"Die Tankstelle der Verdammten" heißt ein Musical des Garmischer Oberarztes und Rockpoeten Dr. Georg Ringsgwandl, das Georg Ringsgwandl nun in den ehrwürdigen Münchner Kammerspielen inszeniert hat, Hauptrolle: Georg Ringsgwandl. Ein "Schrottmusical" nennt der Dichter, Tonsetzer, Regisseur und Protagonist sein Werk - und er machte seine Drohung wahr. "Die Tankstelle der Verdammten" wurde zu einem neuen ästhetischen Tiefpunkt dieser ohnehin nicht triumphalen Theatersaison. Aber, o Schrott, o Wunder, auch zu einem ihrer raren Vergnügen. "Die Tankstelle der Verdammten" ist eine Hölle der deutschen Theaterkunst und ein kleiner bayerischer Himmel des ernsthaften Blödsinns.
Bevor das Theater anfängt, stinkt es schon. Der Vorhang ist noch geschlossen, da dringen sonderbare, gemeine Gerüche hinab ins noble Kammerspiel-Parkett. Gerüche wie tote Katze, angebrannte Milch, billiges Fett so genau weiß man das nicht und ist doch ein wenig beunruhigt.
Dann öffnet sich der Blick auf die Bühne, und das Rätsel ist gelöst: Die Tankstelle der Verdammten ist auf Elin Dokas Bühne keine Tankstelle, sondern ein riesiger kaputter Omnibus, fensterlos, ausgeweidet, reif für den Autofriedhof. Im Inneren des gewaltigen Gefährtes haben locker die sechs famosen Herren der Ringsgwandl-Band Platz, dazu ein vergnügtes Fräulein mit blauer Uniform und Schiffchen-Mütze, gewissermaßen die Schaffnerin des toten Omnibusses: Johanna Krause, die  Souffleuse des Abends, der es sichtbar Spaß macht, endlich einmal nicht verborgen im Kasten zu sitzen, sondern souverän mitten in der Szene.
Aber wieso stinkt das Theater? Weil der Ringsgwandl-Omnibus, diese Titanic der Landstraße, nicht nur Platz hat für die Helden des Musizierens und des Soufflierens, sondern auch für die hohe Kunst des Frittierens: Im demolierten Führerhaus des Busses ist ein kompletter und, wie man  sieht und riecht, höchst aktiver Imbißbetrieb untergebracht. Im Musical fliegt das Theater zum Himmel - ein schöne Lüge. Im Schrottmusical des Dr. Ringsgwandl stinkt das Theater zum Himmel - die ätzende Wahrheit.
An der Tankstelle, also am Omnibus, treffen sich die Verlierer, die Verlorengegangenen: Leute wie der kleine, wuselige Tino zum Beispiel (Michael Tregor), der einmal Testfahrer für BMW-Motorräder gewesen ist, sich nun aber (die kaputten Nieren!) als  Tankwart, Motorbastler und Würstchenbrater durchs Leben schlagen muß. Es ist ein einziges Elend, und dennoch ist Tino seltsam vergnügt.
Vielleicht, weil er ein bißchen blöde ist im Kopf. Vielleicht aber auch, weil er so einen großen, starken, wundervollen Freund hat: den genialen Rockgitarristen Chuck, dessen Genialität leider von der Welt nicht so recht bemerkt wird. Der also sein Leben an der Tankstelle verhockt und versäuft und dabei traurig-großspurige Reden hält von einer schöneren Zukunft, die kommen wird, weil sie kommen muß, basta.
Diesen Chuck spielt, singt und chargiert Georg Ringsgwandl persönlich, ganz wundervoll. Er ist nämlich in keiner Minute ein Schauspieler - und doch in jeder Sekunde ein Star. Denn er verströmt jene königliche, morsche Würde, die man sich nur durch zahllose Niederlagen (in der Kunst wie in der Liebe) erwirbt. Aufrecht geht er seinen Weg - auch wenn es wieder mal nur eine Sackgasse ist.
Ein baumlanger, knorriger Kerl mit tomatenroten Jeans und einer schwarzen Lederjacke mit absolut sensationellen Fransenärmeln.
Dazu ein Totenkopf-T-Shirt mit der Aufschrift "Ride to live". Dazu der Ringsgwandl-Kopf, zerfurcht wie ein altes Stück Holz, von vielen Unwettern gezeichnet. Dazu eine Pferdemähne, die unser Held immer wieder mit einer grandiosen, leichthändigen Gebärde in Hals und Rücken wirft. Kurzum: Chuck ist ein König der Verdammten, eine majestätische Menschenruine, ein musikalischer Halbgott aus Schrott. Die Geschichte, die Ringsgwandl uns erzählt, ist so einfältig, daß man sie getrost auch archaisch nennen könnte. Erstens Liebe, zweitens Geld, drittens Tod. Chuck liebt die schöne Angie, hat sie sogar erfolgreich geschwängert, sein letzter Erfolg auf dieser schlechten Welt. Angie (blond, geil und gemein, also klasse: Annika Pages) liebt wohl den Chuck, doch mehr noch liebt sie den Mammon: Also wirft sie sich weg an den blonden, käsebleichen Dr. Prittwitz (Stephan Kampwirth), der ihr was von einem Luxusleben vorlügt.
Hierüber, dies wird jedes fühlende Herz verstehen, wird der traurige Chuck noch trauriger, todtraurig geradezu, und am Ende der Geschichte ist er naturgemäß tot. Das Leben ist ja so gemein - und am gemeinsten ist es zu den großen Männern. Zu solchen eben wie Chuck.
Zweieinhalb Stunden bis zur Hölle. Das Theater stinkt. Das Theater lärmt und macht Musik - die manchmal auch bloß ein Lärm ist, manchmal aber ein schräger, scheppernder, wunderlich klimpernder Zauber.
Das Theater bringt fernerhin jede Menge Ringsgwandl-Poesie zum Vortrag, in welcher sich Debilität und Genialität zu friedlicher, beinahe paradiesischer Koexistenz verbündet haben.
Das Theater ist blöd wie selten, aber es blödelt nicht. Wo nämlich unsere bekannten Blödel-Komiker ständig mit der Blödheit scherzen und kokettieren, da bewahrt Ringsgwandl seiner erzblöden Geschichte eine Art von Stolz und tumber Würde. Eine Schwermut und tragische Notwendigkeit regieren, in deren Trauerschatten sogar die Blödheit manchmal wie die Schönheit aussieht.
So weit kann es also nicht sein von dieser Münchner Tankstelle der Verdammten bis zu den Leningrad Cowboys oder zu Kati Outinens Restaurant "Dubrovnik" in Helsinki - weshalb man, während einem der Frittenfettdampf ins Hirn steigt, überlegt, ob das  schöne bayerische Wort "Ringsgwandl" nicht die Übersetzung des schönen finnischen Wortes "Kaurismäki" ist.
Der Mensch ist ein Würstchen. Doch weil er untergeht, ist er immer auch ein Riese. Sein Leben ein Schrott - und doch ein Königsdrama. Da macht es gar nichts, daß Herr Ringsgwandl keine Monologe hält über Sein oder Nichtsein, sondern, mit demselben Ernst, über Pappteller und Wurstzange. Und da triumphiert das Zaubertheater, obwohl Ringsgwandl nicht über Elfen und Luftgeister gebietet, sondern bloß majestätisch vorführen kann, wie man eine Bierflasche auf sieben verschiedene Weisen öffnen kann. Und dann schwört er dem grausen Zaubern ab . . .
Nicht vergessen dürfen wir Jörg Hube, den zweiten Superstar des Abends. Er spielt eine zehrende Doppelrolle: eine himmlische Fee und Frau Dreher, die Mutter des unseligen Chuck. Zwei Rollen, eine Verkleidung: orientalisches Kopftuch, Tigerhemd, betörende Nylonstrümpfe, scharfe Oberschenkeltätowierung. So wird aus dem bulligen Mann die arme Mama und die alte Hure. Ein Verkleidungswitz - in dessen Innerem aber ein Menschenschicksal herzbewegend wütet.
Der ganze Jammer einer deutschen Putzfrau, die ganze Pracht einer morgenländischen Puffmutter und die ganze Kunst eines virtuosen Kabarettisten verbinden sich in Hubes Auftritten zu einem komischen Inferno: Muttertag in der Hölle!
Bevor er schließlich untergeht, glaubt unser lieber Chuck noch einmal an ein triumphales Comeback. Und sein Freund Tino sagt hierzu den wundervollen Satz: "Das ist es doch, was ich immer sage, diese fertigen alten Typen, die sind wieder zunehmend gefragt."
Chuck stirbt, aber Ringsgwandl siegt. Und so wirkt sein ganzes Schrottmusical auch wie eine stolze Botschaft an alle Jünglinge und Milchbuben der Pop- und Theaterkunst: "Fertige alte Typen sind wieder ganz stark im Kommen." Dies aber heißt: Generationswechsel!
Endlich auch auf dem Theater! Tanke schön!