Endlich Schrott!
Endlich keine Kunst mehr!
Premiere an den Münchner Kammerspielen:
"Die Tankstelle der Verdammten" von und mit
Georg Ringsgwandl
Henrichs, Benjamin
Das Leben ist eine Tankstelle. Und weil das Leben, wie jeder weiß,
die Hölle ist, heißt diese Tankstelle die "Tankstelle der Verdammten".
Hier treffen sich alle, die ihr Glück zu Schrott gefahren haben. Die
vom Leben Besiegten - die aber immer noch sinnlos und kindisch daran glauben,
eines Tages doch zu den Siegern, den Superstars des Planeten zu gehören.
"Die Tankstelle der Verdammten" heißt ein Musical des Garmischer
Oberarztes und Rockpoeten Dr. Georg Ringsgwandl, das Georg Ringsgwandl
nun in den ehrwürdigen Münchner Kammerspielen inszeniert hat,
Hauptrolle: Georg Ringsgwandl. Ein "Schrottmusical" nennt der Dichter,
Tonsetzer, Regisseur und Protagonist sein Werk - und er machte seine Drohung
wahr. "Die Tankstelle der Verdammten" wurde zu einem neuen ästhetischen
Tiefpunkt dieser ohnehin nicht triumphalen Theatersaison. Aber, o Schrott,
o Wunder, auch zu einem ihrer raren Vergnügen. "Die Tankstelle der
Verdammten" ist eine Hölle der deutschen Theaterkunst und ein kleiner
bayerischer Himmel des ernsthaften Blödsinns.
Bevor das Theater anfängt, stinkt es schon. Der Vorhang ist noch
geschlossen, da dringen sonderbare, gemeine Gerüche hinab ins noble
Kammerspiel-Parkett. Gerüche wie tote Katze, angebrannte Milch, billiges
Fett so genau weiß man das nicht und ist doch ein wenig beunruhigt.
Dann öffnet sich der Blick auf die Bühne, und das Rätsel
ist gelöst: Die Tankstelle der Verdammten ist auf Elin Dokas Bühne
keine Tankstelle, sondern ein riesiger kaputter Omnibus, fensterlos, ausgeweidet,
reif für den Autofriedhof. Im Inneren des gewaltigen Gefährtes
haben locker die sechs famosen Herren der Ringsgwandl-Band Platz, dazu
ein vergnügtes Fräulein mit blauer Uniform und Schiffchen-Mütze,
gewissermaßen die Schaffnerin des toten Omnibusses: Johanna Krause,
die Souffleuse des Abends, der es sichtbar Spaß macht, endlich
einmal nicht verborgen im Kasten zu sitzen, sondern souverän mitten
in der Szene.
Aber wieso stinkt das Theater? Weil der Ringsgwandl-Omnibus, diese
Titanic der Landstraße, nicht nur Platz hat für die Helden des
Musizierens und des Soufflierens, sondern auch für die hohe Kunst
des Frittierens: Im demolierten Führerhaus des Busses ist ein kompletter
und, wie man sieht und riecht, höchst aktiver Imbißbetrieb
untergebracht. Im Musical fliegt das Theater zum Himmel - ein schöne
Lüge. Im Schrottmusical des Dr. Ringsgwandl stinkt das Theater zum
Himmel - die ätzende Wahrheit.
An der Tankstelle, also am Omnibus, treffen sich die Verlierer, die
Verlorengegangenen: Leute wie der kleine, wuselige Tino zum Beispiel (Michael
Tregor), der einmal Testfahrer für BMW-Motorräder gewesen ist,
sich nun aber (die kaputten Nieren!) als Tankwart, Motorbastler und
Würstchenbrater durchs Leben schlagen muß. Es ist ein einziges
Elend, und dennoch ist Tino seltsam vergnügt.
Vielleicht, weil er ein bißchen blöde ist im Kopf. Vielleicht
aber auch, weil er so einen großen, starken, wundervollen Freund
hat: den genialen Rockgitarristen Chuck, dessen Genialität leider
von der Welt nicht so recht bemerkt wird. Der also sein Leben an der Tankstelle
verhockt und versäuft und dabei traurig-großspurige Reden hält
von einer schöneren Zukunft, die kommen wird, weil sie kommen muß,
basta.
Diesen Chuck spielt, singt und chargiert Georg Ringsgwandl persönlich,
ganz wundervoll. Er ist nämlich in keiner Minute ein Schauspieler
- und doch in jeder Sekunde ein Star. Denn er verströmt jene königliche,
morsche Würde, die man sich nur durch zahllose Niederlagen (in der
Kunst wie in der Liebe) erwirbt. Aufrecht geht er seinen Weg - auch wenn
es wieder mal nur eine Sackgasse ist.
Ein baumlanger, knorriger Kerl mit tomatenroten Jeans und einer schwarzen
Lederjacke mit absolut sensationellen Fransenärmeln.
Dazu ein Totenkopf-T-Shirt mit der Aufschrift "Ride to live". Dazu
der Ringsgwandl-Kopf, zerfurcht wie ein altes Stück Holz, von vielen
Unwettern gezeichnet. Dazu eine Pferdemähne, die unser Held immer
wieder mit einer grandiosen, leichthändigen Gebärde in Hals und
Rücken wirft. Kurzum: Chuck ist ein König der Verdammten, eine
majestätische Menschenruine, ein musikalischer Halbgott aus Schrott.
Die Geschichte, die Ringsgwandl uns erzählt, ist so einfältig,
daß man sie getrost auch archaisch nennen könnte. Erstens Liebe,
zweitens Geld, drittens Tod. Chuck liebt die schöne Angie, hat sie
sogar erfolgreich geschwängert, sein letzter Erfolg auf dieser schlechten
Welt. Angie (blond, geil und gemein, also klasse: Annika Pages) liebt wohl
den Chuck, doch mehr noch liebt sie den Mammon: Also wirft sie sich weg
an den blonden, käsebleichen Dr. Prittwitz (Stephan Kampwirth), der
ihr was von einem Luxusleben vorlügt.
Hierüber, dies wird jedes fühlende Herz verstehen, wird der
traurige Chuck noch trauriger, todtraurig geradezu, und am Ende der Geschichte
ist er naturgemäß tot. Das Leben ist ja so gemein - und am gemeinsten
ist es zu den großen Männern. Zu solchen eben wie Chuck.
Zweieinhalb Stunden bis zur Hölle. Das Theater stinkt. Das Theater
lärmt und macht Musik - die manchmal auch bloß ein Lärm
ist, manchmal aber ein schräger, scheppernder, wunderlich klimpernder
Zauber.
Das Theater bringt fernerhin jede Menge Ringsgwandl-Poesie zum Vortrag,
in welcher sich Debilität und Genialität zu friedlicher, beinahe
paradiesischer Koexistenz verbündet haben.
Das Theater ist blöd wie selten, aber es blödelt nicht. Wo
nämlich unsere bekannten Blödel-Komiker ständig mit der
Blödheit scherzen und kokettieren, da bewahrt Ringsgwandl seiner erzblöden
Geschichte eine Art von Stolz und tumber Würde. Eine Schwermut und
tragische Notwendigkeit regieren, in deren Trauerschatten sogar die Blödheit
manchmal wie die Schönheit aussieht.
So weit kann es also nicht sein von dieser Münchner Tankstelle
der Verdammten bis zu den Leningrad Cowboys oder zu Kati Outinens Restaurant
"Dubrovnik" in Helsinki - weshalb man, während einem der Frittenfettdampf
ins Hirn steigt, überlegt, ob das schöne bayerische Wort
"Ringsgwandl" nicht die Übersetzung des schönen finnischen Wortes
"Kaurismäki" ist.
Der Mensch ist ein Würstchen. Doch weil er untergeht, ist er immer
auch ein Riese. Sein Leben ein Schrott - und doch ein Königsdrama.
Da macht es gar nichts, daß Herr Ringsgwandl keine Monologe hält
über Sein oder Nichtsein, sondern, mit demselben Ernst, über
Pappteller und Wurstzange. Und da triumphiert das Zaubertheater, obwohl
Ringsgwandl nicht über Elfen und Luftgeister gebietet, sondern bloß
majestätisch vorführen kann, wie man eine Bierflasche auf sieben
verschiedene Weisen öffnen kann. Und dann schwört er dem grausen
Zaubern ab . . .
Nicht vergessen dürfen wir Jörg Hube, den zweiten Superstar
des Abends. Er spielt eine zehrende Doppelrolle: eine himmlische Fee und
Frau Dreher, die Mutter des unseligen Chuck. Zwei Rollen, eine Verkleidung:
orientalisches Kopftuch, Tigerhemd, betörende Nylonstrümpfe,
scharfe Oberschenkeltätowierung. So wird aus dem bulligen Mann die
arme Mama und die alte Hure. Ein Verkleidungswitz - in dessen Innerem aber
ein Menschenschicksal herzbewegend wütet.
Der ganze Jammer einer deutschen Putzfrau, die ganze Pracht einer morgenländischen
Puffmutter und die ganze Kunst eines virtuosen Kabarettisten verbinden
sich in Hubes Auftritten zu einem komischen Inferno: Muttertag in der Hölle!
Bevor er schließlich untergeht, glaubt unser lieber Chuck noch
einmal an ein triumphales Comeback. Und sein Freund Tino sagt hierzu den
wundervollen Satz: "Das ist es doch, was ich immer sage, diese fertigen
alten Typen, die sind wieder zunehmend gefragt."
Chuck stirbt, aber Ringsgwandl siegt. Und so wirkt sein ganzes Schrottmusical
auch wie eine stolze Botschaft an alle Jünglinge und Milchbuben der
Pop- und Theaterkunst: "Fertige alte Typen sind wieder ganz stark im Kommen."
Dies aber heißt: Generationswechsel!
Endlich auch auf dem Theater! Tanke schön!